56. Dominik SCHMOLL: Eine verschleierte französische Annexion? Der schwierige Beginn der Völkerbundsherrschaft im Saargebiet, 1918 bis 1920
Die Monate zwischen dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Beginn der Mandatszeit durch den Völkerbund bilden – so der Historiker Hans-Walter Herrmann im Jahr 1993 – einen der spannendsten Abschnitte der saarländischen Landesgeschichte. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass dieser Zeitraum bisher durch die Forschung weitgehend vernachlässigt wurde. Dies gilt ebenso für eine Definition der französischen Saarpolitik, die sich zum einen durch die ab November 1918 beginnende Militärverwaltung im linksrheinischen Gebiet (und somit auch in der Saarregion) auszeichnete, zum anderen auf dem diplomatischen Parkett abspielte – namentlich bei der Pariser Friedenskonferenz und dem im Aufbau befindlichen Völkerbund. Eben hier setzt diese Promotionsarbeit an, die sich durch die Sichtung von Beständen in Archiven Frankreichs, Deutschlands und weiterer Nationalstaaten sowie des Völkerbundsarchivs auszeichnet. So konnte eine grundlegende Darstellung der Herrschafts- und Lebensverhältnisse der Bevölkerung vor Ort und der Hintergründe zur Bildung des Saargebietes erreicht werden.
Mit Blick auf die frankophilen Bestrebungen nach einer Angliederung der Saar analysiert die Arbeit die Argumente, die insbesondere Ministerpräsident Clemenceaus wichtigster Berater, André Tardieu, gegenüber den Verbündeten Mächten vorbrachte. Neben historisch begründeten Restitutionsansprüchen und Sicherheitsgarantien in Form einer besser zu verteidigenden Grenze am Hunsrück (die durch die Rheinlandbesetzung ausgeräumt worden waren), war vor allem das Reparationsargument ausschlaggebend: Denn trotz des Status als „Sieger“-Macht war das Leid in Frankreich enorm. 1,4 Millionen gefallene Soldaten und die Tatsache, dass der Krieg im Westen zu weiten Teilen auf französischen Boden stattgefunden hatte, machte Rufe nacheinem Ausgleich laut: „Le boche payera tout!“ Außerdem hatte das deutsche Militär im großen Stil die besetzen nordfranzösischen Gruben geflutet und die Förderanlagen gesprengt, was die Kohlegewinnung auf Jahre hin unmöglich machte.
US-Präsident Wilson und Premierminister Lloyd George aus Großbritannien akzeptierten bei den Friedensverhandlungen die Übertragung der saarländischen Gruben an den französischen Staat, nicht aber die Angliederung des Gebiets an Frankreich. So entstand über die staatliche Zukunft des Saargebietes eine heftige Diskussion, welche die gesamte Friedenskonferenz an den Rand des Scheiterns führte. Ein eigenes Saar-Komitee aus Tardieu sowie den Historikern James Headlam-Morley (Großbritannien) und Charles Homer Haskins (USA) entwickelte letztendlich einen Kompromiss, der die Abtretung der Saar von Deutschland an den Völkerbund sowie eine Volksabstimmung im Jahr 1935 vorsah. Die dabei vollzogene Gründung des Saargebietes bildete die erste territoriale Einheit des heutigen Bundeslandes „Saarland“.
Die Menschen an der Saar litten unterdessen am Mangel an Ernährungs- und Versorgungsgütern, die in der besetzten Grenzregion durch zwei im Umlauf befindliche Währungen hervorgerufen wurden. Dazu umgingen die Bauern die staatlich verordneten Höchstpreise durch Schleichhandel. Der sogenannten November-„Revolution“ hatte das französische Militär einen Riegel vorgeschoben, was auch von weiten Teilen der Bevölkerung wohlwollend zur Kenntnis genommen wurde: Die Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit war das Gebot der Stunde. Um die Empfindungen der Menschen nachvollziehen zu können, bilden insbesondere die vertraulichen Berichte der Kreiskommandanten oder der Postzensur eine wertvolle Quellengrundlage. Im Oktober 1919 eskalierte ein Streik der Metallarbeiter zum ersten saarländischen Generalstreik der Geschichte. Auch kam es zu Plünderungen und Straßenkämpfen, die vom Militär niedergeschlagen wurden. Während hier die existenzielle Not als Hauptursache anzusehen ist, zeigten sich beim Beamtenstreik im August 1920 bereits die Einflüsse der deutsch-nationalen Propaganda.
Unterdessen gelang es den französischen Diplomaten zu erwirken, dass der Völkerbundsrat eine weitgehend frankophile Regierungskommission ernannte. Als Vereinigung von Exekutive und Legislative stand ihr eine enorme Macht zu, die u.a. dafür sorgte, dass das französische Militär als Garnisonstruppe im Land blieb und der Franc alleinige Währung wurde. Unter ihrem ersten Präsidenten, Victor Rault, baute die Regierungskommission die Autonomie des Saargebietes von Deutschland weiter aus und suchte die Nähe zu Frankreich.
Die Arbeit untersucht, ob man vor diesem Hintergrund gar von einer „verschleierten Einverleibung“ (bzw. einer „annexion déguisée“) sprechen kann, was von den Zeitgenossen so geäußert wurde. Doch die Tatsache, dass an der Saar auch während der Mandatszeit demokratische Strukturen bestanden, der Völkerbundsrat sein Aufsichtsrecht gegenüber der Regierungskommission wahrnahm und eine weitgehend unabhängige Rechtsprechung stattfand, verneint diese These.